Kapitalmarktanomalien: Überblick und Bedeutung für Anleger

Kapitalmarktanomalien

Das Investieren am Aktienmarkt bietet immer wieder Überraschungen: Es kann sich laut wissenschaftlichen Analysen an bestimmten Tagen bzw. unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren sogar besonders lohnen. Denn es existieren tatsächlich so manche Effekte, die die Renditeentwicklung beeinflussen. Wir gehen den Kapitalmarktanomalien auf den Grund.

Autor: Dr. Jan Neumann

Lesezeit: 10 Min.

28. Juni 2023

Was sind Kapitalmarktanomalien?

Sobald ein Effekt auftritt, der den Hypothesen der üblichen Kapitalmarkttheorien entgegensteht, sprechen Experten von Kapitalmarktanomalien. Ende der 1970er-Jahre begannen Ökonomen die Abweichungen von den existierenden Modellen der Kapitalmarkttheorien genauer zu untersuchen. Man fand vier wesentliche Erklärungsansätze für das Auftreten von Kapitalmarktanomalien: Fehlbewertung, nicht gemessenes Risiko, Grenzen der Arbitrage, also der Ausnutzung von Kurs- oder Preisunterschieden an verschiedenen Börsen bzw. Märkten, und Stichprobenverzerrung. Kapitalmarktanomalien treten häufig nur zu bestimmten Zeiten auf bzw. setzen unterschiedliche Faktoren voraus.

Verschiedene Arten von Kapitalmarktanomalien

Es existieren verschiedene Arten von Kapitalmarktanomalien, die allesamt unterschiedliche Erklärungsansätze nach sich ziehen und mehr oder weniger kritisch betrachtet werden. Der Grund ist, dass sie dem effizienten Markt, einem der wichtigsten Grundsätze der Finanztheorie, widersprechen. Nach dieser Faustregel folgen Wertpapierkurse am Aktienmarkt einer Zufallsbewegung, dem sogenannten „Random Walk“.

Damit ist ausgeschlossen, dass sie systematisch Überrenditen erzielen. Käme es nach den Anomalien immer zu Überrenditen, würde das eine Ineffizienz der Märkte belegen. Daher gehen die meisten Expertinnen und Experten davon aus, dass die Anomalien nur gelegentlich am Aktienmarkt auftreten. Bewiesen ist ohnehin, dass sie nach einiger Zeit wieder verschwinden, da Anlegerinnen und Anleger sie beim Investieren berücksichtigen und sie sich dadurch auflösen.

Kalenderanomalien

Wertpapiere erzielen an einigen Kalendertagen oder sogar Monaten im Jahr höhere Renditen. Man spricht in diesem Fall von Kalenderanomalien. Neben dem Montagseffekt existieren auch der Feiertags- und der Januar-Effekt.

Montagseffekt

Den Montagseffekt bezeichnen Experten auch als Wochenendeffekt. Denn Wertpapiere verzeichnen nach dem Wochenende, also am Montag, niedrigere Renditen als an den anderen Wochentagen. Fallen die Wertpapierrenditen an allen anderen Wochentagen in der Regel positiv aus, so sind sie montags meist negativ.

Mögliche Gründe sind die nach Börsenschluss am Freitag oder am Wochenende verkündeten Negativ-Meldungen von Unternehmen. Dieses Vorgehen wurde extra so festgelegt, damit Aktionäre genügend Zeit haben, sich auf die schlechten Nachrichten einzustellen und ihre nächsten Schritte gut zu planen. Zwar reagieren die Börsen dennoch negativ auf die Meldungen, allerdings sind die Reaktionen etwas schwächer als an normalen Handelstagen. An diesen würden sie vermutlich in vielen Fällen einen hektischen, unüberlegten Verkauf nach sich ziehen. Auch haben Analysen gezeigt, dass Investoren grundsätzlich dazu neigen, montags Wertpapierverkäufe durchzuführen, was sich in sinkenden Kursen niederschlägt.

Januar-Effekt

Dieser Effekt beschreibt die Hypothese, dass sich die Aktienkurse im Januar besser entwickeln als in den anderen Monaten des Jahres. Im Dezember verkaufen viele Anlegerinnen und Anleger ihre Wertpapiere, um steuerliche Verluste zu umgehen. In den ersten Januarwochen kaufen dann viele von ihnen Aktien und Co. zurück, um von steigenden Kursen zu profitieren.

Ein weiterer Grund ist das sogenannte „Window Dressing“. Professionelle Finanzverwalter tauschen Ende des Jahres in ihren Portfolios schlecht performende Aktien durch Gewinner-Wertpapiere aus. Der dadurch auf die Aktienkurse entstehende Druck nimmt im Januar ab, was zu steigenden Kursen führt. Manche Experten gehen davon aus, dass auch einfach der optimistische Start von Investoren ins neue Jahr zum Januar-Effekt führt.

Feiertagseffekt

Laut dem Feiertagseffekt versprechen Handelstage nach Feiertagen höhere Wertpapierrenditen. Als mögliche Ursache haben Experten die Verkäufe von Short-Sellern definiert. Sie versprechen sich durch Leerverkäufe fallende Kurse von Wertpapieren, die sie später günstiger wieder kaufen können. Vor den Feiertagen neigen viele Short-Seller laut Analysen dazu, riskante Papiere zu verkaufen, um kein Marktrisiko einzugehen.

Kennzahlenanomalien

Kennzahlenanomalien beschreiben das Phänomen, das die Theorien des Kapitalgutpreismodells (CAMP = Capital Asset Pricing Model) widerlegt. Das Modell beschreibt die Beziehung von Risiko und zu erwartender Rendite von Wertpapieren. Kennzahlenanomalien beziehen sich auch auf Unternehmenswert und -größe.

Value-Effekt

Beim Value-Effekt gehen Finanzexperten von der Annahme aus, dass Anleger den Verlauf von Unternehmen häufig falsch einschätzen. Wachstumsunternehmen werden überschätzt, da die Erwartungen geringer sind und positive Unternehmensmeldungen als besonders beachtlich eingeschätzt werden. Werthaltige Unternehmen werden dagegen kritischer von den Anlegerinnen und Anlegern beäugt und schnell unterschätzt. Verschiedene Kriterien, darunter das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das Kurs-Umsatz-Verhältnis und die Dividendenrendite, sind hier ausschlaggebend. Vor allem das Kurs-Gewinn-Verhältnis spielt eine wichtige Rolle. Es hat sich gezeigt, dass unterbewertete Unternehmen mit einem geringen KGV gegenüber denen mit hohem KGV eine höhere Rendite erzielen.

Größen-Effekt

Kleine Unternehmen performen nach dem Größen-Effekt häufig besser als große Unternehmen. Experten sprechen daher auch vomKleinfirmeneffekt. Die Rendite von Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung (Small Caps) fällt über eine gewisse Zeit höher aus als die von Large Caps. Untersuchungen haben ergeben, dass dieser Effekt nicht langfristig und nur in bestimmten Zeitabschnitten auftritt. Das Phänomen wurde intensiv beobachtet und man stellte fest, dass die Wertpapierrenditen zwischen plus oder minus 35 Prozent betrugen; manche Kleinfirmen wiesen sogar eine besonders kleine Rendite auf. Anleger sollten diese Anomalie nach Ansicht von Ökonomen daher besser vernachlässigen.

Effizienzanomalien

Diese Phänomene basieren auf den Aktionen der Anlegerinnen und Anleger. Sie schätzen Unternehmen ein, um daraus eine Handelsstrategie abzuleiten und ihr Portfolio aufzubauen.

Momentum-Effekt

Wie der Name schon sagt, geht es hier um kurzfristige Momentaufnahmen und deren Einschätzung durch Investorinnen und Investoren. Der Kursverlauf des vergangenen Jahres wird genutzt, um Prognosen für die zukünftige Entwicklung – die nächsten drei bis zwölf Monate – zu entwickeln. Analysen haben ergeben, dass Wertpapiere, die in den vergangenen sechs Monaten hohe Renditen erzielt haben, in den nachfolgenden Monaten ebenso gut performen.

Gleiches gilt auch bei schlechter Performance. Studien, wie die von Narasimhan Jegadeesh und Sheridan Titman zeigen, dass Anleger, die auf die „Gewinner-Aktien“ setzen, eine deutlich höhere Rendite erzielen können. Vergleicht man zum Beispiel die Entwicklung des MSCI World Indexes mit der des MSCI World Momentum Indexes über fünfzehn Jahre, wird sichtbar, dass der Momentum-Index besser abschneidet.

Winner-Loser-Effekt

Untersuchungen haben gezeigt, dass Unternehmen, die drei Jahre lang geringe Renditen aufwiesen, in den nachfolgenden fünf Jahren besonders gut performten und teils bis zu 30 Prozent über der allgemeinen Marktrendite lagen. Auf der anderen Seite mussten die Wertpapiere, die sich in den ersten Jahren besonders gut entwickelten, in den kommenden Jahren eher Verluste hinnehmen und lagen bis zu zehn Prozent unter dem Marktniveau.

Intraday-Effekt

Dieses Phänomen beschreibt die Auswirkungen von neuen Unternehmensinformationen oder Neuigkeiten bezüglich der politischen Situation auf die Höhe der Wertpapierrenditen. Finanzmarktforscher stellten fest, dass es – je nachdem, ob die Nachrichten vor oder nach den anstehenden Transaktionen verkündet wurden – zu deutlichen Schwankungen am Aktienmarkt kommt. Wie groß diese sind, hängt von der Art nach Neuigkeit ab.

Fazit: Bedeutung von Kapitalmarktanomalien für Anleger

Studien, unter anderem von David McLean und Jeffrey Pontieff, zeigen, dass Kapitalmarktanomalien nach einiger Zeit wieder verschwinden. Daher ist es schwierig, zu sagen, dass es sich lohnt, auf das ein oder andere Phänomen zu setzen. Außerdem müssen Investoren die Transaktionskosten bedenken, die von der zu erwartenden, womöglich höheren Rendite, wieder abzuziehen sind.

Es gibt allerdings Kapitalmarktanomalien, die auch von Experten als durchaus sinnvoll erachtet werden. Dazu zählt zum Beispiel der Value-Effekt und der Momentum-Effekt, auf denen die jeweilige Investmentstrategie basiert. Grundsätzlich sollten Anlegerinnen und Anleger schauen, welche Strategie sie verfolgen und auf welche Phänomene sie dabei eventuell setzen könnten. Sie sollten immer im Hinterkopf behalten, dass die Anomalien nach einiger Zeit wieder verschwinden und keine dauerhafte Option darstellen.

Die bessere Option: Eine fundierte und langzeitige Investmentstrategie. Im Rahmen des Wealth Managements unterstützt LAIQON Sie mit fundiertem Fachwissen bei der Entwicklung einer Investmentstrategie, die auch wirklich zu Ihnen passt.

Spezialtipp: Das Rätsel des TOM-Effekts

Wer trotz der Unsicherheit, die viele Effekte mit sich bringen, dennoch in die Welt der Kapitalmarktanomalien eintauchen will, sollte sich mit dem Turn of the Month (TOM)-Effekt beschäftigen. Er wurde in den 1970er-Jahren von Norman G. Fosback in seinem Buch „Stock Market Logic“ vorgestellt.

Fosback untersuchte die Entwicklung des Aktienmarktes in den USA am letzten Handelstag eines Monats sowie an den ersten vier Handelstagen des darauffolgenden Monats zwischen 1928 und 1975. Er fand heraus, dass die Anleger, die in diesem Zeitraum 10.000 US-Dollar ausschließlich an ebenjenen fünf Tagen in Aktien anlegt und sonst sicher verzinst hätten, ihr Kapital auf stolze 572.020 US-Dollar erhöht hätten. Wer dagegen an den jeweils anderen Tagen investiert hätte, dem würden am Ende nur noch 899 US-Dollar bleiben.

Seitdem haben diverse Studien, unter anderem die der Forscher Wei Xu und John J. McConnell („Equity returns at the turn of the month“), den TOM-Effekt bestätigt. Mittlerweile hat sich allerdings der Zeitraum drastisch reduziert – von vier Tagen des neuen Monats mit positiver Renditeentwicklung ist nur noch einer übrig geblieben. Anders als viele andere Effekte, ist der TOM-Effekt dennoch sehr beständig, auch, wenn er heute nicht mehr in ursprünglicher Form wirkt. Warum die Anomalie noch immer existiert, bleibt bis heute ein Rätsel.

FAQ zu Kapitalmarktanomalien

Bei vielen bekannten Anomalien raten Experten davon ab, sie in der Handelsstrategie zu berücksichtigen. Die Phänomene treten nur für eine gewisse Zeit auf und verschwinden dann wieder. Zudem resultiert ein Ausnutzen der Effekte schnell in hohen Kosten durch vermehrte Transaktionen. Dennoch kann es sich auch lohnen, wie andere Experten meinen. Schließlich bieten die Effekte die Möglichkeit der Spekulation.

Zu den bekanntesten Phänomenen zählen der Montagseffekt, der Value-Effekt und der Momentum-Effekt. Unterschiedliche Faktoren beeinflussen die Renditeentwicklung.

Es gibt zahlreiche Effekte, die wissenschaftlich belegt sind. Daneben kursieren auch andere wie der Mondphasen-Effekt, der allerdings bisher nicht nachgewiesen werden konnte.

Wer ohnehin nicht auf Spekulationen aus ist, kann Kapitalmarktanomalien ignorieren. Zwar bieten sie die Chance, höhere Renditen zu erzielen, aber da sie zeitlich begrenzt sind und oftmals kurzfristig wieder verschwinden, ist das Auftreten der Anomalien weder verlässlich noch – in den meisten Fällen – in den Vorwegen abzusehen.

Im Internet finden Sie zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Kalenderanomalien, Kennzahlenanomalien und Effizienzanomalien.

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